Die Fußnote: Nachbarschaftshilfe

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Heute ereignete sich im Stadtteil H. der sonnenverwöhnten Stadt F. ein beunruhigender Vorfall. Ein herrenloser Einkaufswagen eines Diskountsupermarktes versetzte die engagierte Bürgerschaft in Aufruhr. Was genau war geschehen?

Eine Gruppe junger Erwachsener bediente sich zum Transport eines Lattenrostes eines Einkaufswagens, den sie laut eigener Aussage auf dem Weg am Straßenrand fanden und stellten diesen nach verrichteter Arbeit auf dem Gehweg vor ihrem Haus ab, um ihn am nächsten Tag zurückzubringen (wer’s glaubt!). Am nächsten Morgen aber war das edelstählerne Schiebegerät verschwunden. Die Studenten wunderten sich darüber und fragten sich, wer ihnen wohl ihre Aufgabe abgenommen hatte. Sie ahnten zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass es sich um aktive Nachbarschaftshilfe in Form des beherzten Eingreifens eines Freiburger Bürgers handelte, der sich offenbar dem Kampf für Recht und Ordnung verschrieben hatte.
Als die Freunde nach einer idyllischen Wanderung zum Schönberg nachmittags zurück in ihr gutsituiertes Wohnviertel H. kehrten, stand der Wagen plötzlich wieder am Straßenrand, jedoch versehen mit einer Notiz. Der selbsterklärte Stadtteilzorro, der zur Enttäuschung aller anonym blieb, hatte sich große Mühe gegeben. Offenbar weiß er die wichtigen Dinge des Lebens von den unwichtigen zu trennen. Ein DIN A4 Blatt, getippt, gedruckt und in Klarsichthülle getackert, war mit Kabelbinder an den Wagen gebunden. Auch in Fragen des Layouts kannte seine Akribie keine Grenzen: Arial 36punkt mit Absatz zeugen von außerordentlichem ästhetischen Gespür.
Nach detaillierter Beschreibung des Vorfalls, dem unser Beschützer der Genauigkeit seiner Ausführungen nach zu urteilen aus sicherer Entfernung beigewohnt hatte – neben dem Tathergang nannte er auch Hausnummer und Postleitzahl –, folgte eine bestimmt vorgetragene Aufforderung, ob „diese Leute“ wohl den Anstand besäßen, das Objekt des Anstoßes zurückzubringen. Dieser Vorfall, liebe Leserinnen und Leser, ist keineswegs banal. Er verdient unsere volle Aufmerksamkeit, zeigt er doch eines ganz genau: Die Ordnung und Sicherheit unserer Umwelt bedürfen unserer stetigen Protektion, und: Es gibt noch Menschen, denen das Wohlergehen ihrer Mitmenschen am Herzen liegen und die bereit sind, dafür einzutreten.
Erst nachdem die Unruhestifter den Wagen zur nächstliegenden Filiale des Geschäftes brachten, glätteten sich die Wogen und von Angst und Schrecken bleibt nur noch eine müder Nachhall, sprich: Die Harmonie des Viertels ist wieder hergestellt. Die Vögel im botanischen Garten zwitschern und die Klänge von Bratsche und Piano klingen sanft zur Straße. Einige Fragen bleiben jedoch: Machte sich unser tapferer Ritter nicht der Selbstjustiz schuldig, als er den Wagen kurzfristig in Gewahrsam nahm? Ist es überhaupt anständig, andere zu beobachten, ohne tieferes Wissen zu beschuldigen und dabei selbst anonym zu bleiben? Und: Woher kommt plötzlich mein Unbehagen, wenn ich durch die Straßen von H. gehe? Schließlich: Brauchen wir eine Bürgerwehr?