Die Fußnote: Egoshooting Selfie

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Ein Wort spaziert in meinem Kopf. Mit Wucht und Ausrufezeichen schleuderte es durch meine Netzhaut und schlüpfte. Durch die Pupille in das Gehirn. Selfie.

Die klangliche Umsetzung dieses Wortes erinnert an einen Namen für einen Glaskugelgoldfisch. Einen Wikipedia- und Oxford English Dictionary-Klick später lautet die Definition: Selbstporträt – aufgenommen mit einer Digitalkamera, einem Smartphone, einer Webcam, überwiegend zum Hochladen in soziale Netzwerke bestimmt.
Die Perspektive und der Winkel solcher Aufnahmen richten sich nach den persönlichen körperlichen Fähigkeiten, mit der Länge und Dehnbarkeit des Arms steigt der Spielraum, aber auch die Selfiefreundekapazität. Ein Selfie mit mehreren Protagonisten wird im Fachjargon als Gruppenselfie bezeichnet. Klingt logisch.
Ist man alleine, steht einem der Armausstreckkreis um den eigenen Körper als Manege zur Verfügung. Wenn kein Bedarf an Hinterkopfablichtung besteht, reicht der vordere Halbkreis. Aufgenommen wird von schräg oben, von schräg unten, Hauptsache schräg, denn mit dem geraden Arm wächst das Doppelkinn – und genau das will keiner. Gezeigt wird die selbstgekrönte Schokoladenseite. Überall und jederzeit.

Wann wurde der Massenproduktion individueller Selbstinszenierung das kollektive Jawort gegeben? Zahlreiche Fotografen porträtierten sich selbst; vor und mit ihnen die Maler. Doch gelten Sanders, Warhols, Umbehrs, Richters oder Breslauers Selbstdarstellungen als Teil künstlerischer Präsentation oder Repräsentation, als Vervollständigung, als Pendant, als ironische Brechung, als Erweiterung des kreativen Ausdrucks und der künstlerischen Fähigkeit, ebenso die Selbstbildnisse von Picasso, Van Gogh, Kokoschka, Lasker-Schüler und Kahlo. Vermittelt werden Zeitgeist, Revolution, Reflexion des Ichs innerhalb der Gesellschaft, Auseinandersetzung und Entwicklung der eigenen Persönlichkeit im Spiegel der Kunst, der Zeit, im Dienst einer Ideologie.
Der wuchernde Tumor der Sozialnetzwerkselfies dagegen scheint in seltensten Fällen künstlerische Umsetzung oder reflektierte Kompositionen für sich zu beanspruchen, es sind pubertäre Auswüchse eines Bedürfnisses nach Oberflächendarstellung, serienmäßiger Selbstinszenierung und Lechzen nach Applaus. Beobachten lässt sich eine hierarchische Einreihung in den unhinterfragten Schönheitsdiskurs und visuellen Selbstoptimierungswahn einer Generation, deren Wunsch nach Besonders-Sein eng verwoben ist mit der Anpassung an eine streng eingegrenzte und fest etablierte Norm, die mit neu errungener Wahrnehmungsstörung im Entenmarsch Richtung Ich-Dissoziation steuert .

Was bewegt uns? Sehen wir unter Eigenregie wirklich soviel besser aus? Ich-Konstruktion fleischlicher Substanz durch versuchte Selbst- und Fremdwahrnehmungskontrolle. Die gewünschte Anerkennung ist nun messbar an der Anzahl der erhobenen Daumen. Nie war Beliebtheit und gutes Aussehen besser zu errechnen, zu vergleichen. Konstruktion, Posten: Regisseur, Produzent und Darsteller: eine Person. Eine Stimme kann man sich selbst schenken, dann gibt man die Macht ab. Liken, Dekonstruktion: Dies übernimmt der Rest der vernetzten Welt.

Ist die Vorstellung, dass ein anderer ein Bild von uns macht, mit seiner Perspektive, seiner Idee von Schönheit, seiner Interpretation und seiner Umsetzung, dass die Anerkennung hierschon im Zwischenraum von Zeigefinger und Auslöser ruht, romantisch oder altmodisch? Lohnt es sich nicht, manchmal die Kontrolle abzugeben und der Wahrnehmungsästhetik anderer zu vertrauen? Jahrelang kämpften wir theoretisch gegen Fremdbestimmung, Bespiegelung, wehrten uns gegen von außen herbeigeführte machtbedingte Verformungen unserer Identität, verweigerten unsere Körper dem Missbrauch als Projektionsfläche, und springen nun über Freuds Schatten, hinein in die Schablone neuer, gesellschaftlicher Zwänge. Aber wir glauben an die Selbstbestimmung, lassen uns nicht mehr fremddefinieren, unser Erscheinungsbild wird nicht dem Zufall überlassen, auch hinter den Kulissen tragen wir blickdichte Strumpfhosen. Die peinlichen Bilder gibt es nicht mehr, wir besitzen die Kontrolle.
Schmollmundige Ernsthaftigkeit und gemäßigt traurige Reflektiertheit sind das neue Zahnpastalächeln. Hat man sich an die mimische Zwangsjacke gewöhnt, ist man auch schon bereit für die nächste Stufe. Die Kulissen der Armhalbkreise werden ausgetauscht. Es sind nicht mehr die Betten, die Badezimmer, die Wohnzimmersofas, die die Selbstinszenierung im geschützten Privatraum dekorieren, man greift höher, wir prostituieren uns quer durch die Weltgeschichte, mit Goethe oder Tussauds Brad Pitt, vor den Grabsteinen einstiger Helden, vor Machu Picchu oder mit unserem Wiener Melange im Café Goldegg.

Wir haben begonnen, unseren gesamten Konsum in unseren weltlichen Bauchnabel zu stopfen. Distanzlos verhält sich unser Körper zu den eindrücklichen Erlebnissen. Geknebelt hängt er am Abklatsch unserer Erfahrungen. Plastikverseuchung, Brand, Himalaya: der Hintergrund. Und wir mit großen Augen, duckfaced, triumphierend, sonnenbebrillt und mit Schulterfalte; vorne links, vorne rechts, eingeklebt, zusammenhangslos. Wir zwängen uns in Kontexte, die es nicht gibt, die es nie geben wird, nicht visuell, nicht emotional, wir sind die Pappfiguren unserer Existenz, sehen nicht, was wir leben und leben nicht, was wir sehen.

Der Schädel bricht auf, der Kopf quillt über, zuviel Hardware haben wir in unsere Software hineingepresst, unverdaut ausgeschieden. Konstruktion, Dekonstruktion.

 

 

Text: Anne-Marie Collé       Foto: Tanja Truoel