Ja, wer mag es nicht sich an kalten Wintertagen an Glühwein getränkten Menschen mit rot verschmierten Mündern vorbei zu drängen, um sich dann in eine Schlange voller, nach heißem Glühwein lechzender Weihnachtsstimmungsfanatiker anzustellen. Es wird deutlich, dass dies eine Abhandlung, nein besser noch, eine Abrechnung mit der friedlichen und ach so besinnlichen Weihnachtszeit werden soll.
Es werden nun Gründe erläutert, die das Fest der Geburt Jesu, welches bis heute sogar die radikalsten Atheisten unter uns freudig und glücklich stimmt, in der heutigen Zeit als nicht mehr angemessen entlarven.
Wir beginnen mal mit den kleinsten und unnötigsten Besonderheiten an Weihnachten: im Jahr 2013 wurden allein in Deutschland 30 Millionen Weihnachtsbäume verkauft und somit wohl auch irgendwo gefällt. Die Anschaffung eines „aufgeputzten Baumes“, wie bereits Goethe den Weihnachtsbaum 1774 bezeichnete, kostete die deutsche Bevölkerung letztes Jahr insgesamt rund 700 Millionen Euro. Um das Weihnachtsbaumphänomen mal rational anzugehen: eine Tanne wird in einen Raum gestellt, mit roten, goldenen oder neongrünen Kugeln und Lametta behängt und mit viel Glück zwei Tage wertgeschätzt bevor sie im Schatten der übermenschlich großen, gar selbstgebastelten Krippe verloren geht.
Die Sinnlosigkeit dieses Brauchs wird jedoch problemlos getoppt und zwar durch das Weihnachtsmarktphänomen. Was ist das doch jedes Jahr für ein Spaß sich dort zu verabreden und nach stundenlanger Suche gemeinsam lauwarmen Glühwein für den Preis von schlappen fünf Euro inklusive Pfand zu schlürfen. Die Wärme, die an solchen Tummelplätzen in der Luft liegt, kommt sicherlich nicht von der geballten Nächstenliebe, die Weihnachtsmarktbesucher empfinden. Im Gegenteil, es herrscht Gedränge, welches beinahe schon an einen kollektiven Ringkampf erinnert. Survival of the fittest beim Glühweinstand, bei den Fressbuden dominiert die panische Angst vor dem qualvollen Hungertod und den zahlreichen Kerzen- und Seifenverkäufern sind die Eurozeichen in den Augen abzulesen.
Klarer Favorit dieser Abrechnung ist die rote, klebrige Masse, die einen angeblich vor dem Erfrieren bewahrt. Die Deutschen trinken jährlich rund 40 Millionen Liter Glühwein und das hauptsächlich in den letzten zwei Monaten vor Jahresende. Man könnte nun natürlich über die Qualitäten dieser Brühe sinnieren, aber Billigfusel auf dem Freiburger Weihnachtsmarkt? Undenkbar! Die Tassen, in denen uns der Conditum Paradoxum, wie die alten Römer ihren Würzwein nannten, serviert wird, machen dem Begriff „Paradoxum“ alle Ehre. Das Getränk soll wärmen und wird auf 70 Grad Celsius erhitzt bevor es zum Ausschank kommt. Die prächtigen Keramikbecher, von denen jeder von uns einen zu Hause im Regal zu stehen hat, schaffen es jedoch den Glühwein so schnell abzukühlen, dass er bereits nach fünf Minuten lediglich noch zehn Grad misst. Doch damit nicht genug: der Alkoholgehalt der würzigen Rotweinmischung liegt in der Regel zwischen 8,8 und 13,1 Prozent. Die leidenschaftlichen Kalorienzähler unter uns sollten folgenden Satz ignorieren und unten weiterlesen, denn eine 0,2 Liter Tasse gefüllt mit Glühwein enthält im Durchschnitt 200 Kalorien, das entspricht ungefähr einem halben Cheeseburger. Na dann, Prost!
Ein Spaziergang über den Freiburger Weihnachtsmarkt lohnt sich vor allem für Anthropologen und soziale Marktwissenschaftler. Ersteren bietet die soziale Organisation von Menschen auf dem Weihnachtsmarkt wohl jährlich neue Überraschungen. Charles Darwins Folgerung über die Überlebenschancen der Bestangepassten dürfte mit der Entstehung des Weihnachtsmarktes wohl grundlegend in Stein gemeißelt sein. Denn das, was sich im Dezember vor den Holzbuden abspielt, nenne ich wohltuend das Ich-werfe-alle-meine-moralischen-Grundsätze-über-Bord Phänomen. In der Weihnachtszeit wird die ältere Generation unserer Gesellschaft mit ihrer Forderung nach mehr Respekt vor dem Glühweinstand gekonnt ignoriert und darf sich trotz Gehhilfe und ersten Anzeichen von Alzheimer immer wieder hinten anstellen. Kinder, die noch nicht auf Augenhöhe herangewachsen sind, existieren nicht, auch wenn sie ihr ganzes Taschengeld für Mila Engel oder Freiburger Bächleboote ausgeben wollen würden. Unglücklicherweise lässt sich dieses Phänomen nicht nur bei den Besuchern beobachten, sondern ebenfalls bei den Standverkäufern. Man könnte meinen, die zahlreichen Künstler unter ihnen hätten ihren Toleranz- und Alternativausweis zu Hause vergessen. Denn das was zählt, ist und bleibt der Kommerz. Liebevoll angefertigte Olivenholzlöffel oder Glasschmuckanhänger werden nicht mehr für die Kunstliebhaber unter uns angefertigt, sondern für die Neureichen, deren gewölbte und mit Geldscheinen prallgefüllten Geldbeutel wie zufällig aus den Hosentaschen lugen. Es verwundert, dass die Verkäufer vor Beginn der Weihnachtszeit nicht an Kursen teilnehmen müssen, die sie zu hochkomplexen optomechanischen Filzscannern ausbilden. Denn ihr Talent für die erfolgreiche Suche nach spendierfreudigen Käufern ist unbestritten. Neugier und Interesse von weniger betuchten Besuchern wie Studenten werden gekonnt ignoriert, Fragen nach Inhaltsstoffen und sonstigen Informationen wird ausgewichen.
Es herrscht Ignoranzstimmung, die mit Hilfe von Geige und Querflöte spielenden Vauban- und Wiehrekindern, gekonnt überspielt wird. Weihnachten, das ursprüngliche Fest der Liebe, wird mit dem gesellschaftlichen Druck nach Geschenkeinkäufen und durch die, von Glühweinorgien aufgeheiterte, sinnliche Stimmung ihres Sinnes entledigt und zu einem kommerziellen Ereignis vermarktet.
Und doch wird der Weihnachtsmarkt jährlich zur Personifizierung der Herz brechenden Frauengestalt aus dem Lied von Wham!: Last Christmas I gave you my heart, but the very next day you gave it away. Jedes Jahr scheitert man an dem Vorsatz stark zu bleiben und Distanz zu bewahren und sich vor dem eigenen inneren Trieb nach Wärme, Sinnlichkeit und Weihnachtsstimmung zu schützen. Der gesellschaftliche Druck überwiegt und nach dem ersten Besuch auf dem Markt erkennt man, dass keiner der dort ansässigen Verkäufer oder Käufer je die Absicht hatte dir oder deiner Familie ein ehrliches und von Herzen kommendes schönes Weihnachtsfest zu gönnen.
Text: Chris Reding Foto: Elise Graf