Die Sterblichkeit der Hipster oder wa(h)re Männer

Freiburg ist nicht immer auf dem neuesten Stand der modernsten modischen Ausdruckskraft. Bis Textilnachwüchse und letzte Schreie ihren Weg in den Waldkessel finden, hat der Rest der Welt die Richtung schon längst wieder gewechselt. In den letzten Jahren hat sich hier am Fuße der schwarzen, tannenbewaldeten Berge eine mustergültige Gemeinschaft gebildet, die sich sowohl individuell, als auch in ihren kollektiven Infrastrukturen in Vollendung entfaltet hat. Von der Mütze bis zum Fortbewegungsmittel ist alles akribisch assortiert. Aussehen soll es, als hätte man es ohne Zu- und Widerspruch von den Großeltern, den Eltern und den älteren Geschwistern geerbt. Der lässige, geschmackvolle und geldbeutelfreundliche Zufallsdress ist ein durchkalkuliertes Bühnenkostüm. Doch die errichtete Kulisse scheint stimmig zu sein. Das Modemanifest ist ein Lebensmanifest – soziale Kontakte, Wohnviertel, Szenekneipen, Freizeitbeschäftigung und Berufswunsch. Stuck, Holzparkett und Wasserboiler, Polaroids, Kaffee auf dem Wochenmarkt illustrieren unsere Welt. Prise Öko, Prise Bio.

Wir lieben ocker und senf, jeanseng, strickpulliweit, sidegecuttet, jutegebeutelt und oberlippenbartbehaart. Geschlechterneutral können wir Parkas, Pullis und Hosen, Schuhe und Armbanduhren tauschen, auch die Oberlippenbärte schieben wir von Mann zu Frau. Auf T-Shirts, auf Partys, auf Selfies. In unserer Hipstermodeseifenblase.

Ihr Möchtegerngeschlechtslosen, ihr Oberflächengendermodehippies, krallt euch fest an euren Matepullen, denn jenseits der Berge tobt ein neuer Sturm.

Ein neues Diktat erobert die Sinne von Männern und Frauen. Da Flexibilität und Anpassungsfähigkeit des Menschen größte Stärke ist – neben der Kompetenz wenige Massenphänomene kritisch zu hinterfragen – , können wir uns damit abfinden und später inbrünstig neue Mensch-wie-leibst-und-lebst-du-Illustrationen vertreten und adaptieren.

Die Mode ist nicht einfach nur Mode, das war sie nie. Sie war immer Ausdruck von Gruppenzugehörigkeit, Labilität, individueller Unsicherheit, persönlicher Trägheit, Abwesenheit von Kreativität, gesellschaftlichem Druck, Stilikonennachhechelei.

Die Ehefrauen von Fußballstars öffneten uns das Tor zur Metrosexualität. Gefundenes Fressen – vor allem für die Marktwirtschaft. Nagellack und Antifaltencrèmes fangen mit Cowboy-Lasso-Technik neue – bis hierhin unergründete – Zielgruppen ein. Mann und die gesellschaftlich festgeschriebene Männlichkeit werden getrennt. Das hier konstruierte Prinzip Männlichkeit wird fast zwei Dekaden nach Beckhams Rosa-ist-auch-meine-Lieblingsfarbe-Phase einem fulminatem Wandel unterzogen.

Mit einem Hürdensprung über die Hipsterära landen wir im Wald der Lumbersexualität. Wieder steht der Mann im Fokus. Wiedervereinigung mit der Männlichkeit. Hurra.

Hurra für die Marktwirtschaft, Hurra für alle. Für die, die sich noch nicht ge- oder erfunden und für jene, die einen supersized Geldbeutel mit supersized Inhalt haben. Hurra für die Secondhandläden, die Umsonstläden und die Altkleidersammlung in Kooperation mit der Dritte-Welt-Kleider-Mafia.

Das kann nämlich weg: Jeanshemden mit Sternchen, enge Beinbekleidung, 4-Loch-Stoff-Schühchen, Jutebeutel, Nerdbrillen, alleinstehender Oberlippenbart.

Was kommt: Holzfällerhemd (rot-schwarz-kariert), abgewetzte, bequeme Jeans, 16-Loch-Boots (ohne Reißverschluss, das ist Mogelei), Wanderrucksack und Bart, ganz viel Bart.

Was bleibt: das Smartphone.

Das wäre das „lumber“. Nun zum „sexual“.

Dem Hipster wurde dieser Wortzusatz erspart. Aber das Sexuelle in Verbindung mit Mode- und Lebensstilvermarktung ist nicht neu. Metrosexuell, Hipster ohne Sex, lumbersexual. An der Oberfläche dieser kollektiven, von der Konsumwelt entworfenen und der Modewelt inszenierten Geschlechterbilder schwimmen wir herum, paddeln, planschen und wiegen uns im Becken der Toleranz, individueller Ausdrucksmöglichkeiten, sexueller Freiheit. Die Spielregeln jedoch sind klar definiert. Raffiniert ist sowohl der Glaube an diese Freiheit, als auch die Aufrechterhaltung der Illusion Körperbilder selbst entwerfen zu können oder wenigsten selbstbestimmt wählen zu dürfen. Die immanente Rückbindung modischen Ausdrucks an sexuelle Attraktivität entkrampft unser Sparschwein. Doch für jene Menschen, die Umsetzungen eigens entworfener Körperbilder vornehmen, oder sich erst gar nicht damit ausseinandersetzen, gibt es eine Bezeichnung: Freaks. Außerhalb des kapitalistischen Zauberkäfigs ist die Hipsteroberlippenbartfrau eine Kampflesbe und der Jeggingsträger eine Tunte.

Und weiter zum Thema Lesben: Frauen, die Männer ohne Bart lieben sind Lesben. So die größte Lumbersexual-Community des größtes sozialen Netzwerks.

Im Gegensatz zu den konstruierten Modewirren bezüglich der Geschlechterdarstellung der letzten Modeströme sind die Positionen des Lumbersexual-Universums klar verteilt. Zwischen Mann und Frau. Und zwischen Mann und Mann. Der Bart wird zur Kernaussage, zum Argument der besseren genetischen Ausstattung. Denn der Bart steht für Samenproduktion, Schwanzlänge, Reichtum, erstklassisches genetisches Erbgut, weibliche sexuelle Ergebenheit. Ein zukunftsnahes Massenphänomen rühmt sich elitären Auserwähltseins.

Der Mann wird nahezu kompromisslos zum richtigen Mann, die Frau reiht sich endlich wieder in die Mein-Haus-mein Auto-meine-Axt-Galerie ein. Dieser neu inszenierte Lifestyle wird in der meist gelikeden Facebooklumbersexualgemeinschaft klar definiert. Sie richtet sich an „ladies“ und „real men“. Bebildert und kommentiert zeigen sich hier die Spielregeln. Mann: aristokratisch, unzähmbar, wild. Natur- und frischluftliebend besitzen die geheimnisvollen brutalromantischen Blockhüttenbewohner neben Axt und Holzscheit mehrere schwarzglänzende Edelkarren, denn Geld und Spaß sind kein Tabu. Freigiebiges Sexualleben trifft treu-monogames Herz. Sie sind Beschützer und Zerstörer, Hure und Vater.

Frau: wartet auf bärtigen Mann. Hierbei ist sie nur wenig heilig. Die Community weiß die sexuellen Erregungen liebenswürdig zu tadeln: „ladies, control your orgasms, it’s just a beard.“

Der „real man“ kann alles (haben). Nicht die Freiheit. Alles an ihm ist fremdbestimmt, sexualisiert und zum Objekt degradiert. Er ist eine einzige Projektionsfläche. Man exponiert ihn auf dem – bis hierhin den Frauen vorbehaltenem – Auktionstisch der sexuellen Vermarktung. „Ladies, I would like to introduce you someone. Hot or not?“

Er rennt um sein elitäres Lumbersexualleben, er, der von Gott Auserwählte, der omnipotente Bartträger, er der Bettwunsch aller Frauen, der Konkurrenzschreck aller nicht wahren (bartlosen) Männer, der Messias, der aus den Wäldern kommt. Auf seinen Schultern lastet der gesamte gesellschaftlich-kapitalistische Erfolgsdruck. Ein echter Mann in die Fesseln echter Männlichkeit gelegt. Ein Frischfleischthekenexponat, ein männliches.

Gekühlt kann er sich hier mit der Frau an seiner Seite Gedanken zum Thema Freiheit machen. Für alle Anderen gilt die gefühlte Freiheit: „Don’t be a slave, don’t shave“, nach dem Motto der Lumbersexual-Communitiy.

TEXT Anne-Marie Collé | FOTO Tanja Truoel