Wir surfen auf der Oberfläche.

In den Neunzigern mal poetisch gewesen, längst polemisch geworden, dieses Wörtchen, wo wir doch alle nur noch Authentisches wollen: Von der Idee einer Oberfläche als dem, was sich Betrachtern aussetzt, ist die Strecke kurz geworden zur Oberflächlichkeit und der Vorstellung, dass sich alle Kraft auf den Erhalt der Illusion eines makellosen Außens konzentriert, darin erschöpft und das Darunterliegende verkümmern lässt. Die Glasur des Eisbergs also, der schillernde Schaum auf dem Wellenkamm, der Goldflitter auf dem Parkett des Partykellers. Oder auch jenes kühle Glas, das die Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine repräsentiert, auf der wir den ganzen Tag herumwischen. Uns hat in diesem Heft die ergonomische Einrichtung unserer Lebenswelt interessiert, zärtlich haben wir Luftballons gestreichelt und unsere Sinne über Flächiges und Flüchtiges huschen lassen. Wir wollten wissen, woher das störrische Vertrauen ins Funktionieren unserer diversen alltäglichen Oberflächen rührt, wo wir doch sonst immer skeptischer werden, wieviel Substanz hinter den glänzend polierten Fassaden des 21. Jahrhunderts wirklich wartet.

Also sind unsere Redakteurinnen und Redakteure ausgeschwärmt, um die Kulissen Freiburgs und der Welt abzutasten. Um das simpel obig Sichtbare als Außenhaut von knisternden Mille-Feuille- Konstruktionen neu zu fassen. Wonach wir genau suchten, waren paradox hinabreichende „tiefe Oberflächen“, wie das Olaf Grabienski, Till Huber und Jan-Noël Thon in ihrer Poetik der Oberfläche nannten: Die epischen Spannbreiten von Jahrhunderten bürgerlichen Selbstverstehens auf dem Muster von Wandtapeten, diesem leise aussterbenden Ziergut. Das Level an hoch-technologischer Finesse, das für die Programmierung jener ausgeklü-gelten visuellen Effekte auf den Kinoleinwänden oder der trügerischen Perfektion auf dem Bildschirm des Smartphones fällig wird. Die etlichen Generationen an überliefertem Handwerkswissen, mittels dessen die Fassaden historischer Möbel so erhalten werden können, als stünde ein Heute nie bevor. Das soziologische Panorama der Jetztzeit auf dem liebsten Schmierpapier jedes Freizeit-Vandalen, der Kabinenwand des öffentlichen Klosetts. Oder auch das Zerstäuben unsichtbarer Oberflä-chen, die uns nicht garantiert sind: Wie lebt es sich ohne Geruchssinn, wenn die Wälle aus Duft und Gestank zerpulvert sind?

Wenn ihr tiefer in unsere Nummer #8 taucht, werden euch viele weitere solcher Surfritte auf und unter die Wogen des Oben begegnen: Ein Trip ins arktische Meer etwa, wo urzeitliche Haie lauern, verdeckt von Eisschollen. Eine Begegnung mit Aktionskünstlerin Barbara., die den öffentlichen Raum beschriftet und uns vielleicht ein bisschen besser macht. Ein elektrisierender Ausflug in die surreale Schattenwelt eines japanischen Fernsehstudios, wo eine betörend künstliche Kirschblü-ten-Realität für Millionen Bilderkonsumenten produziert wird. Ein Abstieg tief in den Barbarastollen im Schwarzwald, wo das archivarische Gedächtnis der Bundesrepublik auch einen Atomkrieg hindurch weiter-schlummern würde. Ein Spaziergang durch die oft sterilen, gelegentlich exzentrischen Bühnenbauten von Wartezimmern in Arztpraxen und ihre räumliche Reflektion des Nachdenkens über kranke Körper. Die Dekonstruktion der Wiehre in viern Akten, dieses so formschönen Kiezes und Inbegriffs gehobener Freiburger Lauschigkeit. Oder ein Fotoprojekt über die hinterlassenen Hüllen unseres gesammelten Mülls eines einzelnen Wochentags, in dem das entkernte Relikt mehr aussagt, als man zunächst meinen möchte.

Ansonsten erwarten euch frische Stimmen ebenso wie Stücke vertrau-ter Veteranen im Heft, und auch bildgestalterisch haben uns sowohl geschätzte Weggefährten wie auch begabte Neuentdeckte geholfen, unsere Themen durch Fotografie und Illustration visuell markant greifbar zu machen. Ohne unser brillantes Grafikteam blieben unsere Produktionen allerdings ein bloßer Haufen flacher Dokumente in einer digitalen Wolke! In der Chefredaktion verantwortet René Freudenthal seine fünfte Ausgabe, und Heidi Liedke löst Elise Graf ab. Wir alle danken Elise für ihre wunderbar einfallsreiche, gewissenhaft bedachte und von viel Herz und Hirn inspirierte Amtszeit! Heidi verharrt zu ihrer Vorstellung knapp über der Blattoberfläche: Sie mag Silben, die einem die Angst nehmen; Wörter, die nicht perlen, sondern auch mal kleben; und leere (Text)räume, bevor sie sich füllen.

Steigt mit auf unser Board, auf zu unbekannten Ufern!

René Freudenthal & Heidi Liedke