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Zwischenwege in intime Silben zerschält. Rekonstruktionen

 

<tropfen streichelt schulter>

#1
kompromissregen
statt ofen oder arktis
sanft, bloß nicht zu stark.

Regen. Aufregend für alle, aber anders. Fünfzig Minuten Bahn, die Regenschirmbenutzung am Ende Zähringens fühlt sich falsch an. Nasse Haut durch Regen zum ersten Mal seit Wochen. Die äußeren Sitzgelegenheiten im Pausenraum entscheiden sich für Regencapes.

<kannst du mal kurz zur seite>
#2
vielleicht kissenschlacht
oder lieber im regen
mit bunten fetzchen.

DSC_0171Drinnen. Sofa vorne mit einer Tiefsitzenden. Und einer nach vorne Gebeugten. Unter dem Lautsprecher eine lächelnd Ahnende. Zu Pressspanplattengeruch liest Heike Geißlers Stimme.  Regelmäßige akustische Verzerrungen. Güterzüge. Der Blick nach oben aus dem quietschenden Sofa – dachte an ein aufblasbares, bis die mit mir zusammen abrutschende indische Tagesdecke wattegefülltes Leder offenbart – sieht schwarze Hunde an neongelben Leinen hinter Beinpaaren spazieren, güterbahnverkehrslautsynchronisiert. Auch hier Erleichterung zwischen Fenster und Schienen. Zumindest bei den Hunden, die Gesichter der Menschen sieht man nicht.

Die Stimme rückt wieder vom Hinter- in den Vordergrund. Sie ist schön. Mein Bauch tanzt, wie so oft bei schönen Stimmen.

<quietschend gleite ich das sofa hinunter. böse blicke.>
#3
leise lautsprecher:
hauptsache, nicht zu laut, denn
wörter sind so zart.

Im Rücken der Stimme flüstern Girlanden aus wäschegeklammerten Linoldrucken, raunen zu vorgelesenen George-Clooney-Porträt-Tassen und ausgetrunkenen Sojamilchkaffeetassen. Das Mädchen mit den orangefarbenen Haaren blickt traurig-melancholisch zu der Frage, wer das Produzierte eigentlich kaufen soll? Kapitalismus- und Konsumkonfrontation auf Kissen und Sofas, zwischen Möbeln, preisbeschildert. Secondhand und Soja. Die Gefahr einer vermarkteten alternativen Weltanschauung. Die Falle der Salonfähigkeit, Fremdentwürfe für Individualisten. Die Gedanken schaukeln sich wohlig in der Hängematte des antikapitalistischen Handelns, die Schuhe stehen auf den Fußabtretern der Großkonzerne. Denn die Bedürfnisse entstehen nicht aus einer realen Notwendigkeit, sondern sind eine in Gewächshäusern gezüchtete Konsumoptimierungsentwicklung.

DSC_0228<heike geißler: 4 – 6 >
#4
gedanken, gewälzt—
das über-ich ist ein ding
aus lauter dingen.

Boxsack, zerlegt in Einzelteile. Die Spaziergängerin von Amazon ist nicht aus Zucker.
#5
spaziergängerin
von amazon; streift umher,
alternativlos.

Von der Alternativlosigkeit zur Kompromisslosigkeit:
Kompromisse?
Antonym: Kompromisslosigkeit
Die gibt es nicht.
Kompromisslosigkeit resultiert aus Prioritätensetzung.
Prioritäten sind Verwandte der Kompromisse.
Oder?

#6
regalromantik
ignoranzunempfänglich
freu ich mich auf dich.

Wirtschaftliche Verwertung von Verknalltheit am Arbeitsplatz. Kapitalisierung aller Lebensbereiche. Eine Vielzahl von Fremden arbeitet fremdbestimmt, angekurbelt durch diskret-emotionale Flirtattacken – wenn die Hardware sinnfrei ist kann doch die Software triebhaft sein -, Phantomherzschmerz, Gefühlsregung wird kapitalfruchtbar gemacht. Warum auf saftige Goldtablett-Nebenerscheinungs-Ressourcen verzichten?

Nach Weihnachten stehen die Türen offen, raus mit euch. Saisonarbeit bleibt Saisonarbeit. Nachhaltigkeit steht im Fremdwörterbuch.

DSC_0180#7
wir simulieren
arbeit. campingfotograf
klickt und klickt und klickt.

Sozusagen. 20 mal. Vielleicht übertrieben. Sozusagen ist das ähm der Geisteswissenschaftler und Kulturschaffenden.

Arbeitssimulation ist sozusagen die Freiheit des Arbeitnehmers. Diese Freiheit kann wie folgt gelebt werden:

Arbeiten –  Zalandoshoppen – Arbeiten – Mittagessen im Sushi-Restaurant. Diese Chopsticks brauchst du auch – Arbeiten – Chopsticks über Amazon bestellen. Klick. Kunden, die diesen Artikel gekauft haben, kauften auch… . Klick – Arbeiten – Merken, dass noch etwas fehlt. Google hilft. Die Facebookwerbung schreit’s dir ins Gesicht.

Diese Freiheit hat nicht jeder. Amazon beschäftigt seine Arbeitnehmer gründlich. Keine Zeit für solche Eskapaden.

DSC_0167<katharina schultens>
#8
frozen eggs, chicken—
in nem rant trifft ei auf bank
und projektleiter.

Goldman Sachs doesn’t care if you raise chickens.

Ananasbedrucktes Oberteil. Gedicht, Essay-Fragment, Gedicht, Pause, Gedicht.

Vermischung von „unsere Generation hat nichts zu sagen“ und der Angst vor der nicht zwingend gegebenen literarischen Unsterblichkeit.

Die Behauptung, unsere Generation hätte nichts Relevantes zu sagen – aus literarisch-kultureller Perspektive – da sie keinen Krieg erlebt hat, erzittert die Gedanken.

[Wird aus dieser Verzweiflung heraus der Antrieb geschaffen, dass die Enkelgeneration dem Bedürfnis erliegt, die Familiengeschichte in epischer Breite aufzurollen, um dann in unaufbrechbaren Kreisen Buchpreise aller Art abzustauben?]

Nach einer Stunde literarisch geäußerter Kapitalismuskritik und Debatten über wirtschaftlich konstruierte Diktatur ist offensichtlich noch Raum für die Infragestellung der Relevanz zeitkritischer Literatur.

<kürzer als butter. so what!?>
#9
ein fluchtgedanke
ist immer da. haltbarkeit
von gedichten: kurz?

CSC_0246L’art pour l’art? Aus dem kultur- und literaturinteressierten Mund strömt Lapolar. Eiskalt den Rücken hinunter.

Zeitkritik ist unsterblich. Und alles andere Kitsch. Oder Luxus.

#10
entwicklungsvorgang:
besessenheit des schreibens.
hab halt keine zeit.

Ich empöre mich! Männerpathos. Der Blick bleibt an der leeren Kaffeetasse mit ihrem angetrockneten Innenseitenrandrestschaum hängen. Er hilft nicht gegen die peinliche Berührung der Äußerung von Betroffenheit und Mitgefühl. Fehl am Platz. Wir befinden uns nicht auf dem Friedhof, sondern auf dem Schlachtfeld. Das Sofa quietscht und es kommt kein Hund mehr.  Schaumschlagpathoszuckergebäck. Probleme kann man nicht mit pseudoromantischem Flattervokabular [Duft und Sehnsucht] lösen.

<irritationen sind super.>
#11
beschleunigungsduft
wenn wir den rückzug proben
und uns irritiern.

TEXT: Anne-Marie Collé         HAIKUS: Heidi Liedke        FOTOS : Linda Baumgartner und Elise Graf

3 Fragen ins Leere.

Lukas Jüliger stellt seine Graphic Novel VAKUUM (2013) vor.  Darin zeichnet er mit flattriger Genauigkeit eine  organische Comiclandschaft bildlich umgestülpter Innerlichkeit. Wir wohnen den körperwarmen Befindlichkeiten und dem ganzen Coming-of-Age-Kram des Protagonisten bei, die Kulisse eine außerweltliche Vorstadt.  Wenn das logisch Greifbare seine seelischen  Auswüchse preisgibt, bleibt nichts mehr anderes übrig als sich an der noch vorgewärmten Sitzfläche festzukrallen. Schweben im luftlosen Raum, die andere Wahlmöglichkeit.

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Die Sterblichkeit der Hipster oder wa(h)re Männer

Freiburg ist nicht immer auf dem neuesten Stand der modernsten modischen Ausdruckskraft. Bis Textilnachwüchse und letzte Schreie ihren Weg in den Waldkessel finden, hat der Rest der Welt die Richtung schon längst wieder gewechselt. In den letzten Jahren hat sich hier am Fuße der schwarzen, tannenbewaldeten Berge eine mustergültige Gemeinschaft gebildet, die sich sowohl individuell, als auch in ihren kollektiven Infrastrukturen in Vollendung entfaltet hat. Von der Mütze bis zum Fortbewegungsmittel ist alles akribisch assortiert. Aussehen soll es, als hätte man es ohne Zu- und Widerspruch von den Großeltern, den Eltern und den älteren Geschwistern geerbt. Der lässige, geschmackvolle und geldbeutelfreundliche Zufallsdress ist ein durchkalkuliertes Bühnenkostüm. Doch die errichtete Kulisse scheint stimmig zu sein. Das Modemanifest ist ein Lebensmanifest – soziale Kontakte, Wohnviertel, Szenekneipen, Freizeitbeschäftigung und Berufswunsch. Stuck, Holzparkett und Wasserboiler, Polaroids, Kaffee auf dem Wochenmarkt illustrieren unsere Welt. Prise Öko, Prise Bio.

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Die Fußnote: Contra Weihnachtsmarkt – Kommerzialisierung auf höchstem Niveau?

Ja, wer mag es nicht sich an kalten Wintertagen an Glühwein getränkten Menschen mit rot verschmierten Mündern vorbei zu drängen, um sich dann in eine Schlange voller, nach heißem Glühwein lechzender Weihnachtsstimmungsfanatiker anzustellen. Es wird deutlich, dass dies eine Abhandlung, nein besser noch, eine Abrechnung mit der friedlichen und ach so besinnlichen Weihnachtszeit werden soll.

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Die Fußnote: Pro Weihnachtsmarkt – Ein Hoch auf die gezielte Verklärung!

Es ist dieser wiederkehrende Moment, irgendwann Mitte November. Gedankenverloren durch die Freiburger Innenstadt wandelnd entdeckst du ihn plötzlich am Rande deines Blickfelds, wie er in den letzten Zügen des Aufbaus befindlich durch den spätherbstlichen Nebel scheint: Der erste Weihnachtsmarktstand der Saison. Unschuldig steht er da – Vorbote eines bald schon die Altstadtgässchen okkupierenden Mikrokosmos‘, der alljährlich diesem verromantisierten Kapitalismusschauspiel als Bühne dient.

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Ausgabe 6

Wenn sie denn im Tiefschlaf verbracht wird, ist die Nacht eine Unschuldslandschaft. Vielleicht tobt sich, träumend, in abseitigen Regionen des Hirns allerlei Unverarbeitetes aus, auch wenig lämmchenhaftes: Dr. Freud hatte schon durchschaut, welch geheimnisvolle Triebe uns Tag um Tag, endlich, doch zurück ins Himmelsdunkel zogen. Aber diese absolut bestirnten Nächte, jene Schweigezonen früherer Epochen? Das ist vorbei.

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